japanische Philosophie

japanische Philosophie
japanische Philosophie,
 
ungenauer Ausdruck für die Hauptrichtungen des japanischen einheimischen Denkens und Verhaltens, in der Hauptsache konfuzianischen, buddhistischen und shintoistisch-nationalischen Auffassungen. Das japanische Wort für Philosophie ist »Tetsugaku« (»Wissenschaft von der Weisheit«). Es wurde von Nishi Amane geprägt und bezeichnet, streng genommen, die westliche und moderne japanische Philosophie.
 
 Einheimische Denktraditionen
 
Japan hat im 4. Jahrhundert vom Festland den Konfuzianismus übernommen, der das moralische und politische Leben des Landes bis weit über die Meijizeit (1868-1912) hinaus prägte. Die erste staatspolitisch-ethische Auswertung des Konfuzianismus erfolgte in der »Verfassung in 17 Artikeln« von 604 des Regenten Shōtoku-taishi und im Taihōcodex von 701. Das Studium des Konfuzianismus wurde von einer Gruppe von Hofgelehrten betrieben, die ihn nur an den ausschließlich für die Aristokratie zugänglichen Bildungsstätten lehrten. Im 13. Jahrhundert führten Zenmönche den Neokonfuzianismus der chinesischen Songzeit (960-1279) in Japan ein. Er entfaltete sich während der Edozeit (1603-1868) in ethischer und staatspolitischer Hinsicht zu seiner vollen Blüte. Seine Hauptvertreter waren Fujiwara Seika (* 1561, ✝ 1619) und dessen Schüler Hayashi Razan (* 1583, ✝ 1657), der Berater der Shōgune wurde und das staatliche Bildungs- und Erziehungswesen betreute, Kinoshita Jun'an (* 1621, ✝ 1698) und dessen Schüler Arai Hakuseki (* 1657, ✝ 1725), Kaibara Ekken (* 1630, ✝ 1714) und Yamazaki Ansai (* 1618, ✝ 1682). Ihrer Lehre liegen die Gedanken des chinesischen Philosophen Zhu Xi zugrunde. Sie lehnten den Buddhismus ab und bevorzugten einen Synkretismus zwischen Shintō und Konfuzianismus. Im Mittelpunkt der Lehre stehen der Mensch und seine Handlungen, deren Normen durch die »Fünf menschliche Beziehungen« (Gorin: das Verhältnis der Kinder zu den Eltern, des Mannes zur Frau, der Untertanen zum Herrscher, der jüngeren Geschwister zu den älteren, des Freundes zum Freund) und die »Fünf Grundtugenden« (Gojō: Mitmenschlichkeit, Rechtlichkeit, Sitte, Wissen, Rechtschaffenheit) festgelegt sind. Mit der Vorstellung eines einheitlichen Weltbildes erhält sie ein metaphysisches Fundament: Alles Sein gehe auf ein höchstes, die Dinge immanent ordnendes Prinzip (Ri) und auf die Materie-Energie (Qi) zurück. Auf der Materie-Energie gründet die Stofflichkeit der Dinge. Sie wird vorgedacht als von den Polen Ruhe (In, chinesisch Yin) und Bewegung (Yo, chinesisch Yang) dynamisch bestimmtes Sein. Aus dem Wechselspiel von In und Yo entstehen die fünf Elemente oder Wandlungsphasen (Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser). Neben der zur orthodoxen Staatslehre gewordenen Shushigaku standen andere konfuzianischen Schulen. Die Yōmeigaku führte die Gedanken des chinesischen Philosophen der Mingzeit Wang Yangming fort, sie wurde v. a. von Nakae Tōju (* 1608, ✝ 1648) und Kumazawa Banzan (* 1619, ✝ 1691) vertreten. Im Gegensatz zur Shushigaku ist für sie Wissen und Handeln untrennbar (Chigyō-gōitsu); Pietät (Nakae Tōju) und die drei Tugenden Wissen, Menschlichkeit und Mut (Kumazawa Banzan) werden als ethische Hauptbegriffe angesehen. Die Fähigkeit der Erkenntnis besitze allein das menschliche Herz (Shin). Die alles umfassende Grundrealität, die sich auch in der menschlichen Existenz offenbart, ist der Geist. - Gegen die Auslegungen der Shushigaku und Yōmeigaku wandte sich die »Schule der Alten Lehre« (Kogaku), vertreten durch Yamaga Sokō, Itō Jinzai (* 1627, ✝ 1705) und Ogyū Sorai (* 1666, ✝ 1728). Die konfuzianischen Begriffe konnten nach ihrer Meinung nur in der Rückkehr zu der ureigentlichen Lehre des Konfuzius und Mengzi geklärt und eindeutig definiert werden. - Das Ziel der synkretistischen »Lehre vom Herzen« (Shingaku) war die Volkserziehung und Aufklärung v. a. des Bürgertums. - Der Konfuzianismus war in Japan niemals nur eine »akademische Philosophie«, sondern eine in der Praxis angewandte Gesellschaftslehre. Er erwies sich in der gesamten japanischen Geschichte als ein für die Regierenden geeignetes, politisch-soziales Regulativ.
 
Die Anfänge der buddhistischen Philosophie lagen in der Narazeit (710-784). Von der Priesterschaft wurden zunächst metaphysische Fragen erörtert. Nach der Gründung eigenständiger Schulen finden sich später auch Untersuchungen zur Erkenntnistheorie, Ethik und Psychologie. Eine bedeutende Rolle in der japanischen Geistesgeschichte spielte die Philosophie des Zen mit dem Hauptbegriff der universalen Leere (Zen).
 
Die Nationale Schule (Kokugaku), als wissenschaftliche Schule in der Edozeit entstanden, war eine Gegenbewegung zu den konfuzianischen und buddhistischen Schulen; sie betonte das eigenständig Japanische. Kamo Mabuchi, Motoori Norinaga, Hirata Atsutane und Okuni Takamasa (* 1792, ✝ 1871) sind ihre Hauptvertreter. Sie ging von philologisch-literarischen Untersuchungen aus und entwickelte sich später zu einer philosophisch-politischen Schule (Hirata, Okuni). V. a. betonte sie die »Rückkehr zum Alten«, dem Shintō. Diese Selbstbesinnung bestimmte die politische Aktivität der Kokugakugelehrten; sie war der Ansatzpunkt für die Forderungen der Meijirestauration: die Missbilligung der Shōgune und die Wiedereinsetzung des Tenno als alleinigen Herrscher. Einen nicht geringen Anteil an der Verwirklichung dieser Ideen hatte die von Tokugawa Mitsukuni (* 1628, ✝ 1700) begründete Schule von Mito.
 
 Moderne Philosophie
 
Die erste Vermittlung der westlichen und modernen Philosophie an Japan erfolgte durch die Niederländer seit dem 18. Jahrhundert Einige japanische Philosophen wie Tominaga Nakamoto (* 1715, ✝ 1746) und Miura Baien (* 1723, ✝ 1789) begannen eine kritische Haltung gegenüber der traditionellen Philosophie einzunehmen. Später setzte sich v. a. Mori Fukuzawa Yukichi (* 1835, ✝ 1901) für die Einführung westlicher Gedanken und Institutionen ein, mit dem Ziel einer wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Entwicklung Japans nach westlichem Vorbild. Die von ihm 1868 gegründete Keiō-Universität wurde zu einer Hochburg des Utilitarismus. Im Rahmen dieser Aufklärungsbewegung wurde 1873 die Intellektuellengesellschaft »Meirokusha« gegründet, die japanische Intellektuelle zur Diskussion über Themen aus dem Bereich westlicher Kultur vereinigte, politisch jedoch keinen Einfluss hatte. Der eigentliche Begründer der modernen Philosophie in Japan wurde Nishi Amane. Gemeinsam mit Tsuda Mamichi (* 1829, ✝ 1903) hatte er während seiner Studien in Leiden die dort dominierenden Richtungen des Positivismus von A. Comte und den Utilitarismus von J. S. Mill kennen gelernt. Neben diesen haben auch I. Kant, G. W. F. Hegel und H. Spencer sein Denken beeinflusst. In seinen Philosophemen wendet er sich besonders Problemen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie und der Ethik zu und weist Japan auf diesen Gebieten neue Wege. Durch das Wirken von Tōyama Shōichi (* 1848, ✝ 1900) und Katō Hiroyuki (* 1836, ✝ 1916) wurde der Evolutionismus in Japan verbreitet. - Die Überbetonung westlichen Denkens in der 1. Hälfte der Meijizeit (1868-1912) führte zu heftigen Reaktionen, die sich besonders auf dem Gebiet der Ethik abzeichneten. Nishimura Shigeki trat für eine wenn auch nicht kritiklose Wiederbelebung des Konfuzianismus ein. Inoue Tetsujirō übte durch seine ethisch-politischen Werke einen starken Einfluss auf den Ultranationalismus bis in die 1940er-Jahre aus. Der vom Christentum beeinflusste Ōnishi Hajime verwarf die ideologiegebundene Philosophie seiner zeitgenössischen Kollegen und forderte, dass die Philosophie der Wahrheit diene. Das Ziel der Philosophen müsse sein, eine Ost und West umfassende Ethik zu entwickeln. Die zuletzt genannten drei Philosophen gehörten dem japanischen Idealismus an. Die japanischen Sozialisten wandten sich gegen die in der Politik zunehmende Tendenz zum totalitären Imperialismus, autoritären Nationalismus und aggressiven Militarismus (Katayama Sen und Kōtoku Shūsui, * 1871, ✝ 1911). - Die 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde durch die Philosophie I. Kants und ihre Entwicklung, den Kantianismus und Neukantianismus, geprägt. Zu ihren Vertretern gehörten Tanaka Ōdō (* 1867, ✝ 1932), Kuwaki Genyoku (* 1874, ✝ 1946), Tomonaga Sanjūrō (* 1871, ✝ 1951), Amano Teiyū (* 1884, ✝ 1980), Abe Yoshishige (* 1883, ✝ 1966) u. a. Seit den 1920er-Jahren bezieht die philosophiegeschichtliche Forschung in Japan alle Epochen ein. - Eine eigene Stellung nimmt Nishida Kitarō ein, der als Einziger eine Schule bildete. Ihm gelang es, die japanische Philosophie aus dem Stadium der Rezeption der westlichen Philosophie heraus- und zu einem originalen Philosophieren hinzuführen und in die Weltphilosophie einzugliedern. Das »Nichts« ist der Zentralbegriff seiner Philosophie, die Einflüsse von H. Bergson, W. Dilthey, Hegel, E. Husserl und besonders des Zen aufweist. Zu seinen Schülern gehörten Tanabe Hajime, Watsuji Tetsurō und Hatano Seiichi. - Nach dem Zweiten Weltkrieg haben neben dem von den Anhängern Nishida Kitarōs (Kyōtoschule) vertretenen Existenzialismus die philosophischen Strömungen aller Länder ihren Niederschlag in Japan gefunden, dabei wurden der Marxismus (Matsumara Kazuto, * 1905, ✝ 1977), der Pragmatismus (Shimizu Ikutarō, * 1907), die Religionsphilosophie (Nakamura Hajime, * 1912), die Sozialphilosophie (Kawakami Hajime, * 1879, ✝ 1946; Fukumoto Kazuo, * 1894; Maruyama Masao, * 1914, ✝ 1996) und die Philosophie der Technik (Saigusa Hiroto, * 1892, ✝ 1963) die führenden Richtungen. - Der Einfluss der deutschen Philosophie überwiegt denjenigen anderer Länder; im Mittelpunkt stehen M. Scheler, N. Hartmann, Hegel, K. Jaspers und M. Heidegger, doch sind auch die philosophischen Klassiker Frankreichs und Englands bekannt. Der Einfluss der amerikanischen Systeme, besonders der Philosophie von J. Dewey, nahm seit 1945 zu. Ein Merkmal der japanischen Philosophie der Gegenwart ist, dass ihre Vertreter die Kommunikation mit den Philosophen der übrigen Welt suchen. Ansätze zu einem Ost-West-Dialog in Form etwa einer komparativen Philosophie (Hikaku tetsugaku) bieten die Philosophie und Religionswissenschaft von Nakamura Hajime und Kawada Kumatarō (* 1899).
 
 
H. Hammitzsch: Kangaku u. Kokugaku, in: Monumenta Nipponica, Jg. 2 (Tokio 1939); H. Hammitzsch: Shingaku, in: ebd., Jg. 4 (1941); H. Dumoulin u. a.: Die Entwicklung der Kokugaku, in: ebd., Jg. 2 (1939); H. Dumoulin: Zen. Gesch. u. Gestalt (Bern 1959);
 H. Dumoulin: Gesch. des Zen-Buddhismus, 2 Bde. (ebd. 1985-86);
 C. Blacker: The Japanese enlightenment. A study of the writings of Fukuzawa Yukichi (Cambridge 1964);
 G. K. Piovesana: Recent Japanese philosophical thought, 1862-1962 (Tokio 1968);
 H. Nakamura: A history of the development of Japanese thought from 592 to 1868, 2 Bde. (ebd. 21969);
 M. Maruyama: Thought and behavior in modern Japanese politics (Neuausg. London 1969);
 D. A. Dilsworth: Nishida Kitarō (1870-1945). The development of his thought (Diss. New York 1970);
 T. Havens: Nishi Amane and modern Japanese thought (Princeton, N. J., 1970);
 K. Nishida: Fundamental problems of philosophy (a. d. Jap., Tokio 1970);
 M. Maruyama: Studies in the intellectual history of Tokugawa Japan (a. d. Jap., Princeton, N. J., 1974);
 
Das Kōdōkanki-jutsugi des Fujita Tōko, hg. v. K. Kracht (1975);
 L. Brüll: Die traditionelle j. P. u. ihre Probleme bei der Rezeption der abendländisch-westl., in: Bochumer Jb. zur Ostasienforschung, Jg. 1 (1978);
 
Japan-Hb. hg. v. H. Hammitzsch (31990);
 T. Izutsu: Philosophie des Zen-Buddhismus (a. d. Engl., 1979);
 H. Nakamura: Ansätze modernen Denkens in den Religionen Japans (a. d. Jap., Leiden 1982);
 R. Schinzinger: Jap. Denken (1983);
 M. Maruyama: Denken in Japan (a. d. Jap., 1988);
 L. Brüll: Die j. P. Eine Einf. (21993);
 P. Pörtner u. J. Heise: Die Philosophie Japans (1995).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Japan: Das christliche Jahrhundert
 
japanischer Konfuzianismus: Das Prinzip der guten Sitte
 
Shintoismus: Leben im Schutz der Götter
 
Zen und andere Formen des japanischen Buddhismus
 

Universal-Lexikon. 2012.

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